Ein Zuhause auf Zeit für Geflüchtete aus der Ukraine

Medizinische und soziale Betreuung in der Landeserstaufnahmestelle in Sindelfingen

Stephan Benz (52) ist studierter Jurist und Geschäftsführer in einer Unternehmensberatung. Seit Ende März 2022 leitete er für die Malteser die Erstaufnahmestelle des Landes Baden-Württemberg in Sindelfingen für Geflüchtete aus der Ukraine. In Abstimmung mit dem Regierungspräsidium Stuttgart plante er die Einrichtung auf dem Messegelände und baute diese auf, so dass sie am 21. April in Betrieb gehen konnte. Bereits 2021 ließ Stephan Benz sich von seinen Aufgaben in der Unternehmensberatung freistellen, um für die Malteser das Impfzentrum in Esslingen zu leiten.  

Herr Benz, wie war es in der Notunterkunft, als Sie angefangen haben?
Mit den Mitarbeitenden hatten wir 14 Tage Zeit, alles aufzubauen und vorzubereiten. In dieser Zeit wurde auch die Software von unserem IT-Spezialisten nach unseren Bedürfnissen programmiert. Die Mitarbeitenden wurden geschult und mit den Prozessen vertraut gemacht. Nach einem ersten internen Probelauf, bei dem wir das Zusammenspiel der verschiedenen Abläufe und Aufgaben testeten, kamen am 21. April die ersten Bewohnerinnen und Bewohner an. 

Was sind die Aufgaben der Malteser in der Notunterkunft?
Unsere Aufgaben reichen vom Corona-Test und der Aufnahme der Neuankömmlinge im System über die Versorgung mit Bettwäsche, Handtüchern, Hygieneartikeln, Babynahrung, Windeln, Kleidung und Schuhen bis zur Ausgabe von Tiernahrung. Während ihres Aufenthalts werden die Bewohnerinnen und Bewohner von unseren Alltagsbetreuern und Sozialarbeitern mit allen wichtigen Informationen versorgt. Für die Kleinen gibt es ein eigenes Spielzimmer und bei gutem Wetter gehen wir mit den Kindern nach draußen, wo sie sich auf einem Abenteuerspielplatz austoben oder auf der Parkplatzfläche gegenüber Fußball spielen können. Das Regierungspräsidium informiert uns regelmäßig, wie viele Personen am Folgetag wo aufgenommen werden können. Wir stellen dann die Buslisten zusammen und sorgen dafür, dass die richtigen Personen in den richtigen Bus einsteigen. Unsere Sanitäter, die rund um die Uhr vor Ort sind, stehen für alle medizinischen Themen zur Verfügung. Zusätzlich bieten wir mehrmals wöchentlich eine Arztsprechstunde im Haus an. Außerdem kümmern wir uns um die Wäsche. Für die Reinigung der Kabinen haben wir eine Reinigungsfirma, die Verpflegung übernimmt eine Cateringfirma.

Wie viele Mitarbeitende umfasst Ihr Team? 
Derzeit besteht unser Team aus 86 Personen. Hinzu kommen der Sanitätsdienst, die Ärzte, das Catering, die Security und die Reinigungsfirma. Auch die Unterstützung durch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer ist uns immer sehr willkommen. Interessierte dürfen sich gerne an meine Kollegin Ewa Grames (Email: ewa.grames@malteser.org) wenden.

Wie viele Geflüchtete leben in der Notunterkunft? Wie ist ihre Situation?
Wir sind die Erstaufnahmestelle des Landes Baden-Württemberg für die ukrainischen Geflüchteten. Da sie im Normalfall nur drei bis vier Tage bleiben, schwanken die Zahlen extrem. Unsere Nennkapazität ist 900. Da wir jedoch sowohl Familien als auch allein reisende Frauen und Männer haben, stehen mehr Betten in unseren Kabinen. Dank zusätzlicher Feldbetten haben wir auch schon fast 1.100 Personen über mehr als eine Woche bei uns untergebracht und versorgt. Die Situation der Geflüchteten unterscheidet sich von anderen Flüchtlingskrisen. Es gibt hier keinen gemeinsamen Fluchtgrund wie Armut, Hunger oder politische Verfolgung. Hier ist ein komplettes Volk mit allen gesellschaftlichen Schichten auf der Flucht. Auch die Nähe zu Kampfhandlungen ist unterschiedlich. Wir haben Personen die vorsorglich das Land verlassen haben und wir haben Personen aus Kriegsgebieten, die mit nichts als ihren Kleidern am Körper und vielleicht noch einer Tüte oder Tasche zu uns kommen. Insbesondere zu Beginn hatten wir Bewohner, deren Schuhe bereits keine durgehenden Sohlen mehr hatten. Ebenso haben wir vom 30 Jahre alten Lada bis zum modernen AMG Fahrzeug alles bei uns. Teilweise mit Einschusslöchern. Die Sorgen und Nöte unserer Bewohner sind daher höchst unterschiedlich und auch die Ansprüche an uns variieren. 

Was waren Ihre größten Herausforderungen?
Geeignetes Personal zu finden und die immer offene Frage, wie viele Personen in den nächsten Tagen anreisen könnten.

Was war Ihr bisher schönstes Erlebnis? 
Es gibt viele schöne Momente. Das sind die Momente, in denen uns die Bewohner ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig ist es auch wieder erschreckend, für wie wenig manche Menschen so dankbar sind, weil es zeigt, wie sich die Maßstäbe in ihrem Leben verschoben haben.

Was planen Sie für die kommenden Wochen und Monate?
Derzeit beschäftigen wir uns mit der Weihnachtszeit. Wir dürfen die Einrichtung weihnachtlich schmücken und möchten insbesondere den Kindern eine kleine Überraschung und Freude nach den ukrainischen Gepflogenheiten bereiten. Wie wir erfahren haben, ist der 19. Dezember sehr wichtig für die ukrainischen Kinder, weil sie an diesem Tag ihre Weihnachtsgeschenke bekommen. 

Was ist Ihr Fazit? 
So schlimm es ist, dass es unsere Einrichtung geben muss, so gut ist es, dass es unsere Einrichtung gibt. Und es ist toll, dass wir hier zu so einer guten Mannschaft zusammengewachsen sind. 

Wenn Sie sich etwas wünschen dürften, was wäre das?
Wir haben in unserem Spielzimmer eine Bastel- und Malecke. Dort zeichnen die Kinder, was sie bewegt. Ich würde mir wünschen, dass die Kinder das, was sie da teilweise zeichnen, nie hätten erleben müssen.

Interview: Petra Ipp-Zavazal (Oktober 2022)